Ist Sucht denn nicht ein ganz persönliches Problem? Mitnichten. Sucht ist eine Krankheit, die sämtliche Lebensbereiche beeinflusst. Auch das Arbeitsumfeld ist betroffen – vor allem dann, wenn es um Leistungsfähigkeit und Sicherheit geht. Wann und wie sollten Vorgesetzte reagieren?
Unternehmen sind verantwortlich für den Geschäftserfolg – aber ebenso für ihre Mitarbeitenden, deren Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Tatsache ist: Bis zu einem Viertel der Arbeitsunfälle in der Schweiz sind auf Alkoholkonsum oder den Konsum anderer gesundheitsschädigender Substanzen zurückzuführen. Das sind Zahlen, die so nicht sein müssten. Unternehmensführung und Vorgesetzte könnten mit der notwendigen Aufmerksamkeit und mit betrieblichen Präventionsmassnahmen noch mehr dazu beitragen, Unfälle am Arbeitsplatz zu vermeiden.
Unter den Suchtkrankheiten sind Nikotin und Alkohol in der Schweiz traurige Spitzenreiter, gefolgt von Cannabis und Kokain. Sie werden gesellschaftlich unterschiedlich anerkannt bzw. stigmatisiert. Doch letztgenannte Substanzen haben vieles gemeinsam: Sie schädigen die Gesundheit, beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit und setzen die Sicherheit am Arbeitsplatz aufs Spiel.
Das BAG (Bundesamt für Gesundheit) geht von etwa 250’000 alkoholabhängigen Menschen in der Schweiz aus, in der Arbeitswelt von mindestens 70’000 Menschen mit problematischem Alkoholkonsum. «Sucht Schweiz» verdeutlicht die Auswirkungen auf die Arbeitswelt: Kurzzeitiges, unbewilligtes Fernbleiben von der Arbeit ist bis zu 8-mal häufiger. Der Produktivitätsverlust wird auf rund 15% geschätzt. Die Wahrscheinlichkeit, einen Unfall zu verursachen, ist unter Alkoholeinfluss bis zu 4-mal grösser.
«Für die Wirtschaft entsteht ein Schaden von rund einer Milliarde Franken jährlich. Für die Betroffenen entsteht vor allem: eine riesige Herausforderung. Denn Sucht ist keine Charakterschwäche, kein Problem der Persönlichkeit und auch keine Willensschwäche. Sucht ist eine Krankheit, die den Körper schädigt und die Psyche belastet – und professionelle Unterstützung erfordert.»
Dr. med. Rahul Gupta
Ärztlicher Direktor / MGL
Anzeichen erkennen
Haben Sie den Verdacht, dass ein Arbeitskollege oder eine Arbeitskollegin von einer Suchterkrankung betroffen ist?
Mögliche Anzeichen könnten sein:
- Ungewohnte Unzuverlässigkeit und Konzentrationsschwächen
- Häufige Stimmungswechsel und sozialer Rückzug
- Zunehmende oder unentschuldigte Absenzen
- Nachlassende Belastbarkeit und Leistungsqualität
In der Regel bauen Betroffene Abwehrmechanismen auf, um die Abhängigkeit vor sich selbst zu rechtfertigen und nach aussen hin zu verharmlosen. Geht diese leise Vorahnung aber in das Bewusstsein über, dass sie erkrankt sind, vertuschen Betroffene ihre Not oft sehr geschickt – etwa durch Geheimverstecke, durch unbemerktes Entsorgen leerer Flaschen oder durch ein neues Parfum und starke Kaugummis, um auffällige Ausdünstungen zu überdecken.
Betroffene unterstützen
Ein wohlwollendes Arbeitsklima kann helfen, dass Betroffene ihre Krankheit anerkennen und sich Hilfe suchen.
So können Sie unterstützend reagieren:
- Als Kollegin oder Kollege auf Augenhöhe könnten Sie Ihre persönliche Sorge zum Ausdruck bringen. Sprechen Sie in Ich-Botschaften, die Ihre Sichtweise aufzeigen, ohne dabei Vorwürfe zu formulieren.
- Als Führungsperson sollten Sie auf der beruflichen Ebene bleiben und Beobachtungen bzw. messbare Verschlechterungen der individuellen Leistung fokussieren. Verdeutlichen Sie Ihre Verantwortung als Arbeitgeber und die Konsequenzen, die das Verhalten nach sich ziehen kann. Treffen Sie Vereinbarungen, die es einzuhalten gilt. Werden diese nicht erfüllt, schlagen Sie einen Termin bei der Personalabteilung, beim Sozialdienst der Firma oder beim Hausarzt vor, um eine Fachmeinung einzuholen und Massnahmen einzuleiten.
- Ist die Sicherheit der Betroffenen oder deren Umfeld unmittelbar gefährdet, sind Arbeitgeber verpflichtet, sofort einzuschreiten: Versetzen Sie die Person an einen ungefährlichen Arbeitsplatz oder lassen Sie sie nach Hause begleiten.
Bei Suchterkrankungen richtig zu handeln, ist für das Arbeitsumfeld oft herausfordernd – aber jede Intervention ist wertvoll: Die Betroffenen erfahren eine persönliche Wertschätzung, die ihnen hilft, die Situation anzunehmen und den Mut zu finden, sich Unterstützung zu holen.
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der Somedia / Südostschweiz. Erschienen ist der Artikel am Samstag, 24. Februar 2024: